Das Ballett hat Viertage-Woche. Crissier, Hôtel de Ville, Chef’s Table draussen in der Küche. Ein Höhepunkt im Jahr, für jeden Gourmet, auch für den GaultMillau-Chef. Man geniesst und beobachtet, wie zwei Dutzend Köche hochkonzentriert und dennoch nicht gestresst das «Menu Gastronomique No. 63» rausschicken in die beiden ausgebuchten Säle. Chef Franck Giovannini steht vorne am «Altar», wirkt entspannt, ruft ab. Die Brigade quittiert mit einem breiten, lauten «Weeh!». Das ist vaudois-französisch und heisst eigentlich «oui». 72 (!) Mitarbeiter stehen in Crissier auf der Lohnliste. Anwesend sind «nur» 55. Giovannini verrät: «Wir haben Viertage-Woche. Die Köche geben vier Tage Vollgas, haben dann drei Tage frei und auch mal ein langes Wochenende für ihre eigenen Pläne.» Nur vier sind immer da: Giovannini und seine drei erfahrenen Souschefs. Fachkräftemangel? «In der Küche nicht», sagt der 19-Punktechef, «da stapeln sich die Dossiers. Im Service ist es schwieriger.» Grosses Bild oben: Papet vaudois auf 19 Punkte-Niveau.
Die grösste Brigade der Schweiz: Franck Giovannini (Mitte) scharrt die besten Talente um sich.
Die «Wall Street» der Bretagne. Giovanninis Kreationen sind von höchster Eleganz, der Umgang mit Kälte/Kühle und Säure schlicht genial. Die Produkte kommen aus der ersten Liga, wie es sich gehört für ein 410-Franken-Menü: Schwertmuscheln in Dézaley-Sauce mit drei Löffeln Kaviar. Foie gras in Perfektion mit «vin cuit». Jakobsmuscheln mit verführerischem, nicht zu heftigem Balti-Curry und Langustinen aus Bretagne und Normandie. Der Chef reist immer wieder selbst ans Meer, will Fischer und Händler persönlich kennen, auf dass er auch wirklich die beste Ware kriegt. Von den Auktionen in den Hafenstädtchen ist er tief beeindruckt: «Das geht zu wie an der Wall Street. Referenz ist der Name des Boots: Die Händler wissen genau, auf welchen Schiffen die besten Fischer rausfahren.»
Seit 30 Jahren in Crissier: Franck Giovannini ist auch bei ausverkauftem Haus die Ruhe selbst.
Der Schalk des Chefs. Eigentlich wäre mitten im Menü ein Gemüsegang fällig: Cardons de Crissier! Dieses Waadtländer AOP-Gemüse wächst einen Steinwurf vom weltberühmten Hotel entfernt, schafft es immer wieder auf die Karte, «aux diamants noirs de Provence», also mit schwarzem Trüffel. Giovannni hat eine bessere Idee: «Ich habe da ein neues Gericht. Willst du das mal probieren?» Ich will und kriege den verrücktesten Papet vaudois meines Lebens: Die deftige Wurst wird leicht getrüffelt in ein Kohlblatt verpackt. Ein Waadtländer Klassiker mutiert zum Fine-Dining-Highlight!
Ein Klassiker auf der Crissier-Karte: de Porc! Auch Franck Giovannini geht mit dem Schweinsfuss aus dem Jura grossartig um.
Der Schweinsfuss aus dem Jura. Franck Giovannini steht seit 30 (!) Jahren in der Crissier-Küche, und mindestens so lange steht ein zweites deftig-heftiges Gericht aus der Karte: «Pieds de Porc du Jura», von Fredy Girardet «erfunden», von seinen hochbegabten Nachfolgern Philippe Rochat, Benoît Violier und Frank Giovannini weiterentwickelt und der Zeit angepasst. «Der Aufwand ist vergleichbar mit dem Lièvre à la royale», sagt der Chef, «wir arbeiten drei Tage lang an diesem Gericht.» Wieder eine elegante «Kugel» auf dem sorgfältig ausgewählten Teller, gefüllt mit in konzentrierter Pinzettenarbeit vom Fett völlig befreiten Schweinefleisch, mit Zwiebeln und Milken, umrahmt von einer fantastischen Sauce mit Porto und Madeira.
Start ins Menü: Couteaux persil (Messermuscheln) mit Kaviar.
Eine traumhafte Kombination: Jakobsmuscheln mit sanft dosiertem Curry.
Sot-l’y-laisse vom Miéral-Güggel. Schweinsfüsse sind Liebhaber-Sache, also gibt es jede Menge eleganter Alternativen: Ein «Noisette d’ Agneau de lait» (Milchlamm mit überraschender Pfeffersauce) schafft es diesmal ins Menü, und das berühmte Crissier-Geflügel, das am Tisch wie im Lehrbuch tranchiert wird, ist auch zu haben: Canard nantais mit Fredy Giradets genialer Rotweinsauce, Bresse-Poularde der Familie Miéral; auch das Sot l’y laisse (Pfaffenstück) wird mit dem grossen Löffel sorgfältig von der Karkasse gelöst. Der Gast geniesst in Crissier alle Freiheiten: Er muss sich nicht strikt ans Menü halten, darf vor allem beim Hauptgang auch das à-la-carte-Angebot checken. «Unsere Brigade ist gross genug. Wir können Extrawünsche erfüllen», sagt Giovannini gelassen.
Der Trick bei den Crêpes. Auch bei den Desserts wird deutlich: In Crissier will man die Koch-Welt nicht neu erfinden, aber einzelne Klassiker perfektionieren. Die Soufflés sind fast so hoch wie die Toques der Köche. Und die «Crêpes Suzette» von einem anderen Stern: Maître Jérôme Belnard flambiert sie mit spürbarer Leidenschaft (sie heissen auch «Crêpes Jérôme»), und Giovannini verrät den Trick: «Unbedingt ein paar frische Früchte darüberlegen, sonst ist der Gang zu schwer.» Clementinen sind es diesmal, Zesten von Zitrusfrüchten, und auch das «Mandarinli»-Sorbet sorgt für Balance. Die überwiegend weibliche Pâtisserie-Brigade hat auch noch eine Attraktion zu bieten: Ein Sablé mit Blutorange und kräftig-schwarzer Schokolade. Apropos Frauenpower: Charline Pichon wacht über den riesigen Crissier-Keller, entkorkt fröhlich mal einen Geheimtipp aus der Schweiz (Chenin von Nicolas Bonnet, Domaine de la Comtesse Eldegarde, Satigny GE), mal eine Grossflasche aus dem Bordeaux (Pape Clément 2014).
Fotos: Pierre-Michel Delessert, Marcus Gyger, Sedrik Nemeth, Julie de Tribolet