Fotos: Jean-Michel Delessert
Wild auf Wild sind in Crissier alle. Die Gäste, die ihren Tisch für die fabelhafte Karte «Le Meilleur de la Chasse» Monate im Voraus reservieren. Und die 24 Köche, die unbedingt Teil des Wild-Teams sein wollen, auch wenn sie sonst auf anderen Posten arbeiten. Souschef Damien Facile leitet die wilde Abteilung, kümmert sich im Keller um Anlieferung und Qualitätskontrolle, später in der riesigen Küche um die finale Zubereitung. Franck Giovannini: «Für meine Köche sind das die anstrengendsten Wochen im ganzen Jahr. Aber sie haben Spass.» Der 19-Punktechef ist selbst nicht Jäger, aber er hat früher seinen Freund und Vorgänger Benoît Violier immer wieder auf die Pirsch begleitet und wahrt die Wild-Tradition im weltberühmten Restaurant. Das «Hôtel de Ville» ist wie immer zweimal täglich restlos ausverkauft, der «Chef’s Table» draussen in der Küche auf Monate hinaus reserviert. Hektik kommt trotzdem nicht auf. Auch der Service arbeitet entspannt, freundlich-fröhlich. «Gourmet-Tempel» war mal. Heute ist man auch in Crissier locker drauf. Grosses Bild oben: Gams aus Les Diablerets. Mit Foie gras.
Ein Fall für Marco. Monsieur Marco ist eigentlich Casserolier im Haus, seit 22 Jahren schon. In der Wildsaison hat er einen Sonderjob: Er rupft mit viel Geschick und im beeindruckenden Tempo die Wildvögel, die angeliefert werden und kriegt dafür eine «Rupf-Prämie»: «Sein Weihnachtsgeld», lacht Giovannini, und weil Marco genau Buch führt über einen Einsatz, weiss der Boss auch, was da verwertet wird: 1500 Vögel sind’s in den Wildwochen! Eine Challenge für die Brigade: «Die Zubereitung der «Oiseaux» ist delikat. Da muss man immer höllisch aufpassen», sagt Giovannini, Qualitätskontrolleur und nervenstarker Taktgeber am Pass.
Gezupftes Reh im Ravolo. Ruft Crissier die wilden Wochen aus, geht es nicht um Rehrücken und Hirschpfeffer. Hier kommt auf die Karte, was man sonst kaum kriegt: Ein elegant verpacktes Rebhuhn und ein fantastisches Raviolo zur Begrüssung. «Ravioles de jeune Brocard» steht mit der in Crissier üblichen Eleganz auf der Karte. Wir blicken rein in die elegant geformte Teigtasche: Gezupftes Fleisch von einem jungen Reh steckt drin; keine wilde Zupferei, sondern akkurat mit der Pinzette angerichtetes Fleisch, ein paar perfekt gebratene Reh-Würfeli liegen über den Ravioli. Champignons gibt es dazu, und vor allem eine begeisternde Porto-Madeira-Reduktion.
Wildsau-Adrio & Tartufi. Dann ist die Wildsau los! «Bête rousse» heissen die mächtigen Tiere im «Hôtel de Ville». Wir kriegen das Power-Fleisch zum «Atriau» verpackt mit Grünkohl, und natürlich fehlen ein paar luxuriöse Accessoires nicht: Foie gras kommt mit ins Netz, und die ersten Alba-Trüffel werden darüber gehobelt. Franck Giovannini ist ein grosszügiger Mensch; entsprechend grosszügig werden die Tartufi appliziert. Wochenverbrauch: 4.5 Kilo. Kilopreis im Moment: 4400 CHF. Wir kriegen noch eine «Tartelette de Palombe des Pyrénées» (Taube), bewundern die mutige Senfsauce dazu (die haben wir lieber als den Kürbis auf dem Törtchen) und sind dann ready fürs Finale.
Schneehühner, Schnepfen, Gams. Giovannini setzt 15 (!) Wildgerichte auf die Karte, der Gast oder der Chef wählt dann sechs davon fürs «Menu Chasse» aus. Heisst: Auf die Schneehühner aus Schottland mit Grain Noble in der Sauce, auf das «Cordon bleu» von der Waldtaube und auf den «Lièvre à la Royale» verzichten wir diesmal (schweren Herzens), aber die beiden Hauptgänge sind ausserordentlich gut: Erst eine Gams, in Les Diablerets VD erlegt. Der Rücken wird am Knochen gebraten, am Tisch mit Grandezza tranchiert. Die «réduction puissante poivrade» (Wildjus, Rotwein-Essig, Pfeffer) dazu löffeln wir bis zum letzten Tropfen weg. Dann wird’s heftig: «Bécasse des bois en salmis», eher für fortgeschrittene Esser gedacht; der Maître fragt bei der Bestellung genau nach, ob das Vögelchen wirklich gewünscht ist im Menü. Das geschmacklich sehr intensive Fleisch der Schnepfe ist auf einem «Feuilleté gourmand» angerichtet, mit einem kleinen Löffel puhlt man noch die Innereien raus.
Giovanninis Saucen-Challenge. Die grosse Herausforderung für den Chef: Viele Stammgäste reservieren im Herbst Monate im Voraus zwei, dreimal einen Tisch. Dass sie dann immer wieder ein anderes Menü kriegen, ist Ehrensache. Gilt auch für die Saucen: «Da gibt es keine Wiederholungen», sagt Franck Giovannini, «wir suchen für jeden Gang eine neue Lösung.» Unglaublich, aber wahr: Weil nicht jeder Gast ein leidenschaftlicher Wild-Esser ist, liegt auch noch das ganz normale Herbstmenü auf, dazu das in Crissier traditionell grosse à la carte-Angebot. Wir haben zusammengezählt: 50 (!) verschiedene Gerichte stehen momentan zur Wahl. Das kann nur Crissier.
Foto Franck Giovannini: Gabriel Monnet