Fotos: Nik Hunger
DESSERT DINING. So bringt Erfinder und Chef René Frank das einmalige Konzept seines «Coda» in Berlin Neukölln präzise auf den Punkt. Im 2016 eröffneten Restaurant kommen tatsächlich ausschliesslich Desserts auf den Tisch. Allerdings greift das zu kurz. Frank und sein Team haben im Lauf der Jahre den Begriff Dessert auf ein neues Niveau gehoben, die Nachspeise quasi neu erfunden. Sämtliche relevanten Gastroführer überhäufen den 38-Jährigen mit Lob, Punkten (17) und Sternen (2). Er wurde wiederholt zum besten Pâtissier des Jahres gekürt, zuletzt 2022 von «The World’s 50 Best Restaurants». Über ein Dutzend Mitarbeitende kreieren fürs abendlichen Seating mit 28 Gästen 15 Gänge. Zucker, Rahm, Butter und andere herkömmlichen Dessertzutaten findet man nicht in den Kreationen, dafür jede Art Gemüse, Pilze, Nüsse, auch Rinderfett vom Wagyu oder Kaviar. Mit klassischen Süssspeisen haben Franks Gerichte also nichts gemeinsam. Grosses Bild oben: René Frank mit Kaviar Popsicle, einem Eis am Stiel der Extraklasse, Signature Dish im «Coda».
PROFIS PILGERN ZUM GURU. Seine Experimentierfreudigkeit, sein Wille zur Perfektion und seine Ideen machen Frank, der rund um die Welt in Spitzenküchen tätig war, zur Inspirationsquelle jedes ambitionierten Pâtissiers. Kein Wunder, waren die vier Kurstage beim Schokoladenhersteller Felchlin in Ibach SZ für Profis sofort ausgebucht. «Wir waren erst nicht sicher, ob wir vier Kurstage mit je 25 Leuten vollbekommen», erzählt Verkaufsleiter Erich Keller, «aber kaum hatten wir die Kurse ausgeschrieben, waren sie ausgebucht.» René Frank sagt, er sei erst erstaunt gewesen über die Einladung der Traditionsfirma, da er seine Schokolade fürs «Coda» von der Bohne weg selber herstellt. Felchlin wollte aber keineswegs, dass Frank in den Kursen mit ihren Couverturen arbeitet, sondern Chefs und Pâtissiers auf ihrer Kundenliste in seine Koch-Kunst einführt. Einige der Teilnehmer waren schon Gäste im «Coda», alle anderen kannten den Namen und den Ruf des Meisters. Die Chance, ihn bei seiner Schweiz-Visite zu treffen und bei der Zubereitung fünf seiner Gerichte zu beobachten, nutzten Pâtissiers und Confiseure aus der ganzen Schweiz und pilgerten nach Ibach. Im Felchlin-Hauptsitz, dem markanten Haus am Dorfeingang mit der Schoggiwelle auf dem Dach, ist man für Kurse bestens eingerichtet mit einer Profiküche. Wöchentlich finden hier Seminare statt. Im grossen Schulungsraum bietet ein gekippter Spiegel eine perfekte Aufsicht auf Herd und Arbeitsfläche. An den Kursen tragen alle Teilnehmenden einen weissen Kimono, der Einheit wegen. Die Idee stammte von Max Felchlin junior und wird seit der Eröffnung des Schulungszentrums «Condirama» 2019 gepflegt.
EIS AM STIEL HIGH-END. Aus dem «Coda»-Menü verriet Frank die Zubereitung von fünf Gängen, zu denen er auch die Rezepte abgab. Darunter sein High-End-Glacéstängel mit Kaviar, sein Signature Dish. «Eis am Stiel gehört für mich zu den feinen Kindheitserinnerungen, darum wollte ich es unbedingt im Menü haben, aber anders. An diesem Kaviar Popsicle habe ich lange getüftelt, sehr lange. Die Schwierigkeit war, dass das Eis innen gefroren ist, eine genaue Temperatur von minus acht Grad hat, der Kaviar aber zimmerwarm sein muss, um seine Aromen zu entfalten. Und die Schokohülle wollte ich nicht knackig, sondern hauchdünn.» Die exklusive Schleckerei besteht aus einem Kern aus Pekannuss-Paste, gefolgt von Vanille-Topinambur-Eis, umhüllt mit Pekannuss-Schokolade, auf die Oscietra-Kaviar aufgespachtelt wird, am Schluss kommt mit einer Sprühpistole folienfein ein Hauch von Pekannuss-Schokolade drauf. «An einem Eisstand angeboten, müsste ich für so ein Eis am Stiel 45 Euro haben», erklärt Frank. «Allein der Kaviar kostet um 12 Euro.» Von den vielen, wirklich sehr vielen Arbeitsschritten, die im Eis stecken, ganz zu schweigen. Für Laien viel zu komplex, ausserdem brauchts einen Pacojet, einen Thermomix, Temperaturfühler und eine Sprühpistole. Auch für die Beef Fudges, kleine, schokoumhüllte Dragées mit Fett vom Dry Aged Wagyu, ist Profimaterial unabdingbar: etwa eine Dragiertrommel. Ausserdem Übung und Fingerspitzengefühl, um die perfekte Konsistenz hinzubekommen. Viel Zeit sowieso.
KOPIEREN LIEGT KAUM DRIN. Noch viel aufwändiger stellten sich die Teller mit mehreren Komponenten heraus – jede wird nach «Coda»-Credo selbstverständlich von Grund auf gemacht. Da war die Komposition von Kakao, Kirsche und Sauermilch. Und eine Schokolade-Haselnuss-Chicorée-Symphonie. Und das Ein-Biss-Bijou aus gelber Tomate, Kichererbse und Zitrone. Selbst die Profis staunten ob so viel Aufwand der Zubereitungen, die das Zeitbudget auch in Spitzenküchen sprengt. Die «Coda»-Kreationen wird man im Original also kaum in Schweizer Restaurants oder Hotels serviert bekommen. Die Pâtissiers suchten und fanden eher grundsätzliche Ideen zum Thema Desserts. Am meisten beeindruckten viele der komplette Verzicht von Zucker, eine von Franks Grundsätzen. Und der Aufruf vom Meister zum Wagemut und Ungehorsam. «Ich selber mache heute alles anders, als ich es gelernt habe», sagt René Frank. Seinen Fans gibt er mit auf den Weg, immer daran zu denken, dass das Dessert der emotionalste aller Gänge ist. Das habe mit Kindheitserinnerungen zu tun, dem Alter, in dem unser Geschmacksempfinden ausgebildet wird. «Und das Dessert als letzter Gang ist derjenige, der den letzten Eindruck eines Abends prägt. Und der ist mindestens so wichtig wie der erste.»